Griechisch lebt
in der Auffassung vom Menschen
Gewaltig ist, was der Mensch geschaffen hat.
Im Laufe der Zeit hat er immer mehr an Kultur entwickelt und hat es geschafft, die Natur um sich herum "in Griff zu bekommen".
Gewaltig in der Etymologie dieses Wortes steckt aber auch das Wort "Gewalt". Denn der Fortschritt des Menschen ging eigentlich nur mit "Gewalt" voran. "Vergewaltigung" der Umwelt und immer wieder Gewalt der Menschen gegeneinander sind Begleiter auf dem Weg des Menschen hin zum "Fortschritt".
Dies erkannten auch die Griechen. Schon der Philosoph Heraklit hat den "Krieg als Vater aller Dinge" bezeichnet. Die Zweideutigkeit des Menschen als "Kulturwesen" und als "Zerstörer" hat der Dichter und Staatsmann Sophokles in seiner Tragödie "Antigone" im ersten Standlied des Chores sehr schön zum Ausdruck gebracht. Er verwendet dabei für den Menschen das Adjektiv
deinoV , das "furchtbar", "gewaltig", "ungeheuer" und "schrecklich" bedeuten kann:Ungeheuerlicher Mensch
Viel Ungeheures ist, doch nichts
So ungeheures wie der Mensch.
Der fährt auch über das graue Meer
Im Sturm des winterlichen Süd
Und dringt unter stürzenden Wogen durch.
Und der Götter Heiligste, die Erde,
Die unerschöpfliche, unermüdliche,
Plagt er ab,
Mit wendenden Pflügen Jahr um Jahr
Sie umbrechend mit dem Rossegeschlecht.
Und der leicht-sinnigen Vögel Schar
Holt er mit seinem Garn herein
Und der wilden Tiere Völker, und
Die Brut des Meeres in der See
Mit netzgesponnenen Schlingen:
Der alles bedenkende Mann. Er bezwingt
Mit Künsten das draußen hausende Wild,
Das auf Bergen schweift,
Und schirrt das rauhnackige Pferd
An der Kruppe ins Joch
Und den unermüdlichen Bergstier.
Auch die Sprache und den windschnellen
Gedanken und städteordnenden Sinn
Bracht er sich bei, und unwirtlicher Fröste
Himmelsklarheit zu meiden und bösen Regens
Geschosse, aller fahren. Unerfahren
Geht er in nichts dem Komm enden entgegen.
Vor dem Tod allein
Wird er sich keine Ausflucht schaffen.
Aus Seuchen aber, unbewältigbaren,
Hat er sich Auswege
Ausgesonnen.
In dem Erfinderischen der Kunst
Eine nie erhoffte Gewalt besitzend,
Schreitet er bald zum Bösen, bald zum Guten.
Achtet er die Gesetze des Lands
Und das bei den Göttern beschworene Recht:
Hoch in der Stadt! Verlustig der Stadt,
Wem das Ungute sich gesellt
Wegen seines Wagemuts! -
Sitze mir nicht am HerdNoch habe Teil mit mir am Rat,
Wer so tut!
Zitiert nach: Wolfgang Schadewaldt, Griechisches Theater, (c) Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 1964, S.102ff.
Griechisch: Sophokles, Antigone, Griechisch/Deutsch, hrg. von N. Zink, S. 30-34.
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