Geschichten

Unterm Regenbogen

Unterscheidet sich deine Welt auch arg von der meinen,

so haben wir dennoch die Kluft dazwischen betrogen.

Denn trübt grauer Regen der einen,

was die Sonne der anderen bescheint,

so erhebt sich ein Regenbogen, der beide Welten vereint.

 

Der letzte Regenbogen

Für Gigi

Die Kinder liefen aufgeregt zu ihren Eltern. "Wo ist der Regenbogen?" riefen sie ihnen fragend zu. Die Eltern blickten sich ratlos an. "Wir haben den Regenbogen schon lange nicht mehr gesehen", meinten sie und zuckten die Achseln. "Wir haben auch immer so viel zu tun. Arbeit, Sport, Hobbys. Man kommt ja schon gar nicht mehr dazu, zum Himmel aufzuschauen!" Und die Eltern überlegten, wann sie zum letzten Mal einen Regenbogen gesehen hatten. Den enttäuschten Kindern konnten sie aber keine Antwort geben. "Fragt euren Lehrer!" rieten sie ihnen. Da liefen die Kinder zum Lehrer. "Wo ist der Regenbogen?". Der Lehrer wiegte bedächtig den Kopf. Dann erklärte er den Kindern, dass der Regenbogen nur sichtbar sei, wenn Sonne und Regen gleichzeitig am Himmel seien. Die Kinder fragten, wann er selbst zum letzten Mal einen Regenbogen gesehen habe. Aber auch der Lehrer konnte sich nicht mehr erinnern, es war zu lange her. "Der Bürgermeister müsste so etwas wohl wissen", meinte er. Da liefen die Kinder zum Bürgermeister, aber auch der hatte schon sehr lange keinen Regenbogen mehr gesehen. "Die alten Leute müsst ihr fragen, die wissen mehr über den Regenbogen. Ich habe wichtigere Sachen zu erledigen". Die Kinder suchten eine alte Frau auf, die als ein bisschen verrückt galt. "Wo ist der Regenbogen?" Die alte wurde sehr nachdenklich. "Es ist lange her, dass ich ihn das letzte Mal sah. Ich weiß es nicht, wo der Bursche steckt. Wahrscheinlich würdet ihr ihn leichter finden, wenn ihn schon früher jemand vermisst hätte. Ich bin ganz sicher, der empfindsame Regenbogen ist verschwunden, weil die Menschen nicht in der Lage sind, das zu bewahren, was schön und bewundernswert ist. So müsst ihr, wenn ihr etwas über den Regenbogen wissen wollt, am besten den Regen selbst und die Sonnenstrahlen befragen!"

Die Kinder wussten nichts von der Verrücktheit der Alten. Daher fragten sie wirklich die Sonnenstrahlen: "Bitte, sagt uns, wo der Regenbogen geblieben ist!" Aber auch die Sonnenstrahlen wussten nichts. Sie boten sich an, den Regen zu befragen. Der ritt auch gleich eilig auf dem Wind herbei. Doch enttäuscht mussten die Kinder erfahren, dass selbst Regen und Sonne nichts über den Verbleib des Regenbogens wussten. Da setzten sich die Kinder traurig auf den Boden und begannen bitterlich zu weinen. Tränen kullerten über zarte Wangen zu Boden und sammelten sich in kleinen Pfützen. Kein Ton war zu hören, es sei denn, eine Träne tropfte direkt in eine Pfütze. Schließlich konnten die Sonnenstrahlen den Anblick der weinenden Kinder nicht mehr ertragen. Sie begannen, die Tränen in den Himmel zu tragen und Wolken zu formen. Der Regen setzte sich mitten in diese Wolken und ließ die Tränen zur Erde fallen. Die Sonnenstrahlen versuchten ihrerseits, den Fall der Tränen aufzuhalten, sie in der Luft aufzufangen. Bei diesem Spiel erschienen zuerst zaghaft, dann immer durchdringender, märchenhaft verschwommene, zarte Farbstreifen über der ganzen Weite des Himmels. Mit einem Mal erstrahlte ein heller Bogen aus blauem, grünem, gelbem und rotem Licht in der Luft, der Himmel wurde von kräftig leuchtenden Farben überschwemmt. Der Regenbogen war zurückgekehrt.

Staunend hörten die Kinder auf zu weinen und blickten gebannt auf das Farbenwunder über ihnen. Glücklich lächelten sie einender zu und legten sich ins Gras, um den zauberhaften Anblick zu genießen. Die Farbenglut des Himmels spiegelte sich in ihren Augen.

Aber nur kurze Zeit konnte der Regenbogen die Kinder in seinen Bann schlagen. Sie wurden immer unruhiger und unterhielten sich bald über Schule, Fernsehen und Fußball. Schließlich gingen sie in kleinen Gruppen davon. In ihrem Rücken schienen die Farben am Himmel zu pulsieren, sich abzumühen, kräftiger und schöner zu werden. Doch niemand bemerkte es.

In ihrer Wohnung kicherte eine verrückte Alte. Die Farben am Himmel verblassten langsam, allein ein leuchtender grüner Streifen der Hoffnung blieb sichtbar. Dann verblasste auch er.

 

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