Quelle:

Baruch Spinoza: 'Tractatus theologico-politicus'

Wenn die Menschen alle ihre Angelegenheiten nach bestimmtem Plan zu führen imstande wären oder wenn das Glück sich ihnen jederzeit günstig erwiese, so stünden sie nicht im Banne eines Aberglaubens. Weil sie aber oft in solche Verlegenheiten geraten, daß sie sich gar keinen Rat wissen, und weil sie meistens bei ihrem maßlosen Streben nach ungewissen Glücksgütern kläglich zwischen Furcht und Hoffnung schwanken, ist ihr Sinn in der Regel sehr dazu geneigt, alles Beliebige zu glauben. Denn sobald er einmal in Zweifel befangen ist, genügt ein leichter Anstoß, ihn dahin oder dorthin zu treiben, und das um so leichter, wenn er zwischen Furcht und Hoffnung schwankt, während er sonst nur allzu zuversichtlich, prahlerisch und aufgeblasen ist.

Dies kann meines Erachtens niemand verkennen, obgleich die meisten, wie ich glaube, sich selbst nicht kennen. Jeder, der unter Menschen gelebt hat, weiß aus Erfahrung, daß die meisten von ihnen in glücklichen Umständen, mögen sie auch noch so unerfahren sein, Weisheit im Überfluß haben, so daß sie es für eine persönliche Beleidigung halten, wenn man ihnen einen Rat geben will; im Unglück aber wissen sie nicht aus noch ein, flehen jeden um einen Rat an und befolgen ihn, mag er noch so ungeeignet, ja unsinnig und abenteuerlich sein. Die geringfügigsten Ursachen lassen sie schon eine Besserung erhoffen und wiederum auch eine Verschlimmerung befürchten. Wenn ihnen nämlich, solange sie in Furcht schweben, irgend etwas begegnet, das sie an ein vergangenes glückliches oder unglückliches Ereignis erinnert, so meinen sie, es kündige einen glücklichen oder unglücklichen Ausgang an, und deshalb nennen sie es, mag es sie auch schon hundertmal getäuscht haben, ein günstiges oder ungünstiges Omen. Wenn vollends etwas Ungewohntes sie in großes Erstaunen versetzt, so halten sie es für ein Wunder, das den Zorn der Götter oder des höchsten Wesens künde, und meinen, abergläubisch und irreligiös wie sie sind, sie müßten es mit Opfern und Gelübden sühnen. Solcher Dinge ersinnen sie eine Menge und erklären die Natur auf sonderbare Weise, gleich als ob sie ihren Wahnsinn teile. [-> Zurück zu 'Baruch Spinoza']

aus: Spinoza: Tractatus theologico-politicus. Theologisch-politischer Traktat. Herausgegeben von Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner. Spinoza Opera – Werke. Lateinisch und Deutsch. Erster Band. Darmstadt 1979, S. 5 und 7.